Familie haben alle!
Vortrag und Diskussion 9.12.13, 19 Uhr Rüsselsheim, Matthäusgemeinde
zur Orientierungshilfe der EKD zum Thema Familie
Der Virtrag von Pröpstin Gabriele Scherle im Wortlaut:
Als im Juni 2013 der Rat der EKD die Orientierungshilfe unter dem Titel „Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“ herausgab gab es einen Aufschrei in verschiedenen Medien. Der Evangelischen Kirche wurde vorgeworfen, sie würde in zeitgeistiger Umnachtung den Abschied von der Ehe in Form von Mutter-Vater-Kind einläuten. Der Rat der EKD und die Verfasser, zu denen auch unser Kirchenpräsident gehört, wurden von einem breiten Bündnis von (vor allem männlichen) Kritikern angegangen: einige evangelische und römisch-katholische Bischöfe aber auch muslimische Organisationen meldeten sich in namhaften Zeitung zu Wort. Der Ratsvorsitzende, Nikolaus Schneider, aber auch unser Kirchenpräsident, Volker Jung, wurden scharf angegriffen.
Bei den Angriffen ging es nie um die in der Schrift entfalteten Bedeutung von Familien für den sozialen Zusammenhalt in unser Gesellschaft und den Überforderungen, die mehr Unterstützung nötig machen.
Es ging bei den Angriffen um die Fragen: Was verstehen wir unter Ehe? Wie sehen wir gleichgeschlechtliche Partnerschaften? Und vor allem: Kann es Familie jenseits der verschieden-geschlechtlichen Ehe gehen?
Zur Orientierungshilfe
Die OH der EKD nimmt die gesellschaftlichen Veränderungen in Sachen Ehe und Familie zur Kenntnis wie sie uns eben Frau Alt für Gross-Gerau geschildert hat.
Die OH macht diese Veränderungen zum Ausgangspunkt einer evangelischen Ortsbestimmung. Sie rückt dabei die Verantwortung der Generationen füreinander in den Vordergrund und markiert die evangelische Sichtweise, dass Kinder in verlässlichen Beziehungen aufwachsen sollen.
Die eigentliche Zuspitzung der Schrift liegt darin, dass sie nicht mehr nur die Ehe von Mann und Frau als eine verlässliche Beziehung ansieht. Stattdessen erkennt sie an, dass Alleinerziehende, Patchworkfamilien und gleichgeschlechtliche Paare als ein guter und gottgefälliger Lebensraum für Kinder zu betrachten sind. Dabei verschweigt sie die derzeitigen Herausforderungen der Familienpolitik nicht und bringt die Überforderungen zur Sprache z.B. durch Erwerbsarbeit und Sorgetätigkeit in der Familie, die Pflegesituation, aber auch Gewalt in der Familie und die Armutsgefahr die Familie bedeuten kann. Diesbezüglich ist die OH eine gute hilfreiche Analyse der derzeitigen Situation und eine sozialpolitische Positionierung für Kirche und Diakonie.
Die OH stellt ausführlich dar, dass sich auf der Basis des Grundgesetzes eine rechtliche Veränderung ergeben hat. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungs-gericht wird immer deutlicher unterschieden, zwischen dem staatlichen Schutz der Ehe und dem Schutz der Familie. Familie ist dabei jeder soziale Zusammenhang, in dem Menschen Verantwortung für Kinder übernehmen. Zugleich hat der Staat eine zweite verbindliche Rechtsform neben der Ehe geschaffen, die Gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft.
....... Das eigentliche Problem der OH besteht darin, dass sie zwar eine evangelisch begründete Theologie der Ehe vorträgt. Aber sie begründet nicht den Kern der Stellungnahme, nämlich die Entkoppelung von Ehe und Familie im Blick auf das Zusammenleben mit Kindern. Ehe und Fortpflanzung (Generativität) werden entkoppelt.
Die Schwierigkeit in der gegenwärtigen Debatte liegt m.E. darin, dass weder die Befürworter noch die Gegner der sozialpolitischen Positionierung (nichts anders ist die Orientierungshilfe) den theologisch wunden Punkt diskutieren. Und dieser Punkt ist tatsächlich gewichtig: die OH bricht mit der kirchlichen und theologischen Tradition, die Fortpflanzung als den eigentlichen Zweck der Ehe anzusehen.
Vielleicht macht dies ein wenig zugänglich warum die EKD und die Verfasser der OH so vehement angegriffen wurden, obwohl man die sozialpolitische Linie der Schrift teilt, alle Formen von Zusammenleben mit Kindern stärken zu wollen.
1. Die Ehe als „weltlich Ding“ und „geistlicher Stand“
Ich möchte zunächst kurz das klassische evangelische Verständnis der Ehe skizzieren, das auch die Orientierungshilfe der EKD nicht aufgegeben hat und das ich für gut begründet halte.
Martin Luther wertet die Ehe entscheidend auf.
Dafür sind zwei theologische Überlegungen maßgeblich: seine Lehre vom allgemeinen Priestertum und seine Zuordnung der Ehe zum weltlichen Regiment.
• Zum einen orientiert sich Luther in seiner Ehetheologie an der Lehre vom allgemeinen Priestertum. Demnach brauchen die Getauften keine Priester. So sind alle Christen Gott unmittelbar nahe. In der Folge gibt es keinen „geistlichen Stand“ der Gott näher wäre. Alle müssen sich gleichermaßen im gesellschaftlichen Alltag vor Gott bewähren. Das gilt für alle Berufe, für die Familie und auch für die Ehe.
Das zölibatäre Priestertum kann deshalb für Protestanten keinen höheren geistlichen Stand darstellen. Luther nennt in der Folge die Ehe deshalb einen „göttlichen Stand“ (Traubüchlein 1529), den Gott „vor allen anderen Ständen eingesetzt hat“ (Kleiner Katechismus, 1529). In diesem Sinn ist die Ehe eine „Institution“, eine Ordnung, die - als Komplex sozialer Regeln mit Geltungsanspruch - gleichzeitig vorgegeben ist und gestaltet werden muss.
Die Ehe als institutionelle Form ist also eine „göttliche Stiftung“, nicht aber die konkrete Eheschließung. Diese ist eine menschliche Entscheidung. Und weil dies – in der von Gott zwar erhaltenen, aber doch auch immer gefährdeten Schöpfungswirklichkeit - die Möglichkeit des Scheiterns beinhaltet, ist die Ehescheidung möglich.
• Zum anderen wird die Ehe von Martin Luther als „weltlich Ding“ bezeichnet. Er ordnet die Eheschließung als sozialen Tatbestand bzw. als Rechtsakt nicht mehr dem geistlichen, sondern dem weltlichen Regiment Gottes zu, dem Regiment zur Linken, bei dem die Obrigkeit als von Gott eingesetzte Autorität zu betrachten ist. Damit setzt er sich ab von der römisch-katholischen Lehre, die die Ehe seit dem 12. Jahrhundert als Sakrament betrachtet. Anders als die Taufe, gehört für Luther die Ehe nicht zum göttlichen Erlösungshandeln, sondern sie dient dem geordneten menschlichen Zusammenleben. So schreibt er: „Es kann ja niemand leugnen, dass die Ehe ein äußerliches, weltliches Ding ist, wie Kleider und Speise, Haus und Hof, weltlicher Obrigkeit unterworfen“ (Von Ehesachen, 1530).
Diese theologische Entscheidung begründet die evangelische Hochschätzung gegenüber der vor dem Standesamt geschlossenen Ehe.
Die Ehe ist nicht an sich und in jeder Form zu begrüßen. Der Maßstab ist, ob sie dem Wohl der Eheleute und ihrer Mitmenschen dient. So wäre es heute völlig unakzeptabel für die evangelische Ehelehre, wenn der Staat etwa Zwangsehen oder Ehen mit minderjährigen Mädchen zulassen würde. Nicht der Zeitgeist kann für die evangelische Theologie maßgeblich sein, sondern die Ausrichtung am Wohl der Eheleute (z.B. durch wechselseitige und umfassende Verantwortlichkeit, durch den Schutz der Schwächeren in der Ehe und durch ihren auf Dauer angelegten Charakter).
Deshalb ist es bedauerlich, dass die evangelische Kirche dem Zeitgeist verfallen war, als sie kritiklos dem Eherecht der Nachkriegszeit folgte, das die Rechtsfähigkeit und die Erwerbsarbeit von Frauen vom Willen des Mannes abhängig machte. Und deshalb ist es richtig, dass die evangelische Kirche heute dem homophoben Zeitgeist widersteht und eingetragene gleichgeschlechtliche Partnerschaften der Ehe entsprechend behandelt. Denn hier gehen zwei freie Partner eine umfassende, auf Dauer angelegte, rechtliche Bindung ein, die unser Staat ermöglicht.
Damit werden beide Rechtsformen – die Ehe und die „eingetragene Lebenspartnerschaft“ - dem Anliegen auch der reformatorischen Tradition gerecht, wonach die Ehe als ein „Bollwerk der Keuschheit“ (Thomas Kaufmann) gesehen wurde.
Sie sollte – neben der Regeneration der Gattung Mensch - die sexuelle Triebhaftigkeit kontrollieren helfen. Das asketische Ideal eines zölibatären Lebens sollte auch in der Ehe wirksam sein. Aus dieser Sichtweise kommt die moralische Abwertung von Geschlechtsakten, die nicht auf Fortpflanzung hin angelegt sind. Konservative christliche Kreise aller Konfessionen neigen dazu, die gegenwärtige Sexualisierung des Lebens als Folge dieses „Sündenfalls“ zu sehen. So ist gerade aus dieser Sicht ist die Ehe eine Notverordnung Gottes gegen die Macht der Sünde. Sie ist eine Ordnung nach dem Fall, für das Leben „jenseits von Eden“. Sie ist gerade keine Schöpfungsordnung.
Fassen wir also zusammen:
• Zum einen wird die Ehe von den Reformatoren gegenüber dem Klerus aufgewertet. Sie ist gerade als „weltlich Ding“ der höchste „geistliche Stand“. Deshalb verlässt der Mönch Martin Luther den Orden und heiratet die ehemalige Nonne Katharina von Bora. Sie machen aus dem Augustinerkloster einen kleinen Wirtschaftsbetrieb, in dem viele Kinder in einer großen Hausgemeinschaft mit vielen Bediensteten und Gästen aufwachsen. Daraus entwickelt sich das protestantische Pfarrhaus, die Keimzelle der modernen bürgerlichen Familie.
• Zum anderen wird der rechtswirksame und sozial verbindliche „Konsens“ zweier Menschen wie in der Alten Kirche zur Voraussetzung der evangelischen „Trauung“. Dies wird in Reinform wieder deutlich, als die zivilrechtliche Funktion der Kirchen und Synagogen im Deutschen Reich 1875 beendet wird. Seit 1876 sind nicht mehr die „Pfarrämter“ sondern die „Standesämter“ die Behörden zur Führung des Personenstandsregisters.
Und die evangelischen Kirchen halten diese Linie durch. Nur wer sich vor der weltlichen Autorität rechtlich bindet, der darf mit dem Segen Gottes rechnen. Dieser Segen gilt allein dem rechtlichen Bündnis, das auf Dauer angelegt ist. In dieser Hinsicht ist es auch konsequent, die rechtliche Form der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft anzuerkennen.
Da wo zwei Menschen dieses Bündnis eingehen, da kann ihnen – im Sinn des evangelischen Eheverständnisses – der Segen Gottes in einem öffentlichen Gottesdienst nicht verweigert werden. Umgekehrt ist es nicht möglich Menschen zu trauen, die ein solches rechtliches Bündnis nicht eingehen wollen.
2. Ehe und Generativität – Warum das Wohl der Kinder ins Zentrum gehört
Damit sind wir beim zentralen Problem der Orientierungshilfe und der gegenwärtigen Diskussion angelangt. Die Entkoppelung von Ehe und Familie, von Ehe und Generativität muss begründet werden. Denn auch für Martin Luther war – wie für die gesamte abendländische Christenheit - der eigentliche Zweck der Ehe die Fortpflanzung, durch die der Fortbestand des eigenen Volkes (auch aus militärisch-politischen Gründen) oder der Gattung gesichert werden sollte. Dieses Interesse an der Generativität lässt sich auch in den Texten des Alten Testaments wiedererkennen und
erschien zu allen jenen Zeiten plausibel, in denen das Überleben der eigenen Bevölkerung an ihrer Geburtenrate hing. Diese scheinbare Plausibilität stellt die Orientierungshilfe in Frage, allerdings ohne starke Gründe zu nennen. Deshalb erscheint die Entkoppelung von Ehe und Familie in dem Text vor allem als ideologisch und politisch begründet.
Ich gehe aber davon aus, dass es gute theologische Gründe für die Entkoppelung von Ehe und Fortpflanzung gibt.
Das biblische Interesse an der Fortpflanzung des Volkes Israel muss im Kontext der damaligen Lebensverhältnisse verstanden werden. Das Überleben hing an der Generationenfolge. Und deshalb führte die alte Sarah ihrem Mann, Abraham, die jüngere Sklavin Hagar zu, damit der Stamm weiterlebe. Das hat mit unserem Eheverständnis wenig zu tun.
Es ist interessant zu sehen, dass sich in der jungen Christenheit eine deutliche Distanz zu diesem Anliegen durchsetzte.
Der Kirche aus allen Völkern ging es um die Erwartung eines neuen Himmels und einer neuen Erde, die gar keine Eheschließung oder gar Fortpflanzung mehr kennen würden. Deshalb wurde die Ehelosigkeit Jesu zum Vorbild aller, die sich ganz diesem Glauben verschrieben, wie etwa der Apostel Paulus. Und die, die sich zum Christentum bekehrten, hatten damit einen legitimen Grund sich scheiden zu lassen: sie gehörten jetzt zur neuen Familie Gottes, zur „familia Dei“. Deshalb ist das Leitbild eines christlichen Lebens mit Bezug auf den „Vater im Himmel“ das gleichberechtigte Verhältnis von „Schwestern und Brüdern“. Und Jesus kann sagen: „Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter“ (Mk 3, 35).
Erst in der mittelalterlichen Christenheit mit ihren Krisenerfahrungen (von der Völkerwanderung bis zur Pest im 15. Jahrhundert) wurde der Fortbestand der nunmehr christianisierten Völker erneut zu einem zentralen Thema.
Mit diesem gewachsenen Interesse an der Fortpflanzung entwickelte sich erst die römisch-katholische Sakramentalisierung der Ehe (die im 11. Jahrhundert begann 1439 auf dem Konzil zu Florenz abgeschlossen war). Und bis heute ist die Fortpflanzung der harte Kern der römischen Ehetheologie, auch wenn in der Folge des Zweiten Vatikanums das Wohl der Eheleute inzwischen ebenso betont wird. So müssen Brautpaare im „Ehevorbereitungsprotokoll“ der Deutschen Bischofskonferenz dem Satz zustimmen: „Eine Ehe ist ihrer Natur nach auf das Wohl des Gatten sowie auf die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft hingeordnet.“
Auch Martin Luther hat – darin ganz mittelalterlicher Mensch - den Zweck der Ehe in der Fortpflanzung gesehen, in der Sicherung des Fortbestandes des Volkes. Ihm darin nicht zu folgen ist heute theologisch geboten. Denn der Zusammenhang von Ehe und Familie entspringt dem mittelalterlichen Zeitgeist und keineswegs der biblischen Botschaft von der neuen Menschheit in Christus.
Wir können heute die gesellschaftliche Bedingtheit der mittelalterlichen Ehetheologie so deutlich sehen, weil sich die demographische Situation ebenso geändert hat, wie die medizinischen Möglichkeiten, die Reproduktion von der ehelichen Gemeinschaft zu lösen. Eine unbegrenzte Fruchtbarkeit dient nicht dem Wohl der Menschheit. Und das Wohl der Kinder – die wir heute, anders als etwa Martin Luther, als eigenständige Subjekte betrachten – ist nicht zwingend an die Ehe und die biologische Elternschaft gebunden.
Diese Einsicht hat sich im staatlichen Recht durchgesetzt und durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts inzwischen gefestigt. Diese gewachsene Erkenntnis der Obrigkeit, die dem weltlichen Regiment Gottes dient, widerspricht nicht dem ethischen Maßstab des Wohls. Deshalb ist sie für die evangelische Kirche maßgeblich.
Die Kinder und ihr Wohl ins Zentrum zu rücken darf also als biblisch begründet angesehen werden.
Damit ist jedoch noch nicht entschieden, was wir jeweils für das Kindeswohl halten. Hier müssen sich die Kirchen mit in den gesellschaftlichen Streit begeben. Zwei Grenzbestimmungen lassen sich jedoch markieren. Zum einen darf einem Kind nicht die Möglichkeit bestritten werden, sich seiner biologischen Abstammung zu vergewissern. Insofern ist die neueste Rechtsprechung in Sachen anonymer Samenspende zu begrüßen, die Kindern ein solches Recht einräumt. Zum anderen ist die biologische Elternschaft an sich noch keine Gewähr für das Wohl des Kindes.
3. Geschlecht und sexuelle Identität – Warum wir weiter denken müssen
Kommen wir nun zum dritten Teil der Überlegungen, der Frage inwiefern Ehe und Familie die Verbindung von Mann und Frau voraussetzen. Wir berühren dabei ganz grundsätzliche Vorstellungen von dem, was wir für „natürlich“ halten und was nicht. Deshalb ist gerade hier die biblische Vergewisserung notwendig.
Eine kirchliche Trauung ist aus evangelischer Sicht immer dann möglich, wenn ein öffentlich gemachtes und rechtlich wirksames Bündnis zweier Menschen vorliegt. Weitere Bedingungen hinsichtlich des Familienstandes oder des Geschlechts sind theologisch nicht zwingend. Weder ein vorher gescheitertes Lebensbündnis, noch mögliche Kinderlosigkeit, noch Gleichgeschlechtlichkeit der Bündnispartner können die Verweigerung einer öffentlichen gottesdienstlichen Trauung begründen.
Wer diese Position bezieht, muss sich mit dem Einwand auseinandersetzen, dass die Bibel doch Homosexualität grundsätzlich verurteile. Richtig ist: Es gibt in den biblischen Texten eine klare Ablehnung gelebter Homosexualität, die andere Menschen erniedrigt und missbraucht (1. Mose 19, 5; 3. Mose 18, 22; 3. Mose 20, 13; Römer 1, 26f.; 1. Korinther 6, 9; 1. Timotheus 1, 10).
Diese Texte sind außerdem von der antiken Weltsicht geprägt, wonach es nur eine geschlechtliche Orientierung gibt. Homosexualität erscheint darum als verwerfliches Verhalten von Heterosexuellen, die grundsätzlich auch anders handeln könnten. Deshalb wird an den entsprechenden Stellen ebenso hart über dieses Verhalten geurteilt, wie etwa über die Gier.
Weil wir aber heute davon ausgehen müssen, dass es mehr als eine geschlechtliche Orientierung gibt, geht die Verurteilung gleichgeschlechtlicher Praktiken durch die biblischen Texte heute ins Leere.
Treue zu den biblischen Texten und Bejahung gleichgeschlechtlicher Liebe schließen sich deshalb nicht mehr gegenseitig aus. Ausgeschlossen sind und bleiben aber Formen der Liebe, die andere missbrauchen und erniedrigen. Das jedoch gilt für hetero- und homophile Beziehungen gleichermaßen – und es schließt pädophile Beziehungen grundsätzlich aus.
Eine weitere Entwicklung will ich nur andeuten. Die Annahme, der Zweigeschlechtlichkeit, die natürlich sei, d.h. körperlich und psychisch festgelegt, steht heute naturwissenschaftlich in Frage. Aus den Keimzellen können sich vielfältige geschlechtliche Zustände und sexuelle Identitäten entwickeln. Deshalb werden operative Vereindeutigungen des Geschlechts zunehmend abgelehnt. Das Recht hat darauf reagiert. Ab dem 1.1.13 muss nach dem Personenstandsrecht kein Geschlecht mehr eingetragen werden, d.h. es gibt auch anderes als männlich und weiblich.
Biblische Vergewisserung / Grundlegung
In den aktuellen Debatten sind viele Menschen entrüstet, wenn die Kirche nicht das vertritt, was als „natürlich“ oder „gottgegeben“ erscheint. Ein Teil der Empörung über die Evangelische Kirche speist sich m.E. aus diesem Motiv und aus der Erwartung, die Kirchen – um nicht zu sagen: wenigstens(!) die Kirchen – müssten den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen eine stabile Ordnung entgegensetzen und das bewahren, was „natürlich“ ist.
Doch auch für die biblischen Texte sind die Zweigeschlechtlichkeit und die Geschlechterordnung keineswegs „natürlich“ oder eine gottgegebene Schöpfungsordnung. In den Bibelwissenschaften hat sich längst eine Lesart der Geschichte der Geschlechter durchgesetzt, die sie vermutlich staunen lässt. Ich fasse die Erkenntnisse kurz zusammen:
Im Alten Testament wird das Verhältnis der Geschlechter im Zusammenhang der Schöpfungsgeschichte erschlossen. Das erste menschliche Wesen ist geschlechtlich nicht festgelegt: Adam, der Erdling. Erst durch die Teilung werden aus dem Erdling „Isch“ und „Ischah“, zwei Menschen, die sich zwar als Mann und Frau erkennen, aber als ähnlich – „Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch“ – und die gleichberechtigt die Verantwortung für die Erde übertragen bekommen. Deren Geschlechtsrollen - und der Geschlechterkampf - gehören keineswegs zum paradiesischen Leben des Anfangs. Sie sind vielmehr Folge des Sündenfalls. So werden Kleider (und heute auch Schuhe und Taschen) zu geschlechtsspezifischen Markern.
Und nach der Vertreibung aus dem Paradies wird die Erhaltung des Lebens zu einem geschlechtlichen Muster: die Frauen gebären unter Schmerzen und werden von den Männern beherrscht, die der Erde den Lebensunterhalt abtrotzen. Die Schöpfungsgeschichte versucht diese Verhältnisse nicht zu begründen, sondern ihre Vorfindlichkeit zu verstehen. Deshalb lässt sich aus diesem Anfang auch keine Norm für die heutige Ehe erschließen. Zudem sind wir hier weit von unserem Ehe- und Familien-verständnis entfernt. So kann ein Mann mehrere Frauen haben und von ihnen viele Kinder: Adam hat Sarah und Isaak, aber auch Hagar und Ismael. Bis heute leiten sich die „abrahamitischen Religionen“ aus diesen polygamen Verhältnissen ab.
Die biblischen Schriften durchzieht von der Schöpfungsgeschichte her eine scharfe Kritik der geschlechtlichen Machtverhältnisse. Dies ist schon die Intention jener Stelle, die scheinbar die Zweigeschlechtlichkeit festlegt:
„Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn, und schuf sie als Mann und Frau.“ (1. Mose 1,27). Doch diese Aussage hat ein anderes Ziel: Nicht mehr der König ist Gottes „Ebenbild“, sondern alle Menschen, ob männlich oder weiblich. Es geht um die größtmögliche Inklusion. Dementsprechend setzen sich die biblischen Texte kritisch mit sexueller Gewalt auseinander, mit ökonomischer Abhängigkeit und haben eine klare Tendenz: immer stärker soll das Eherecht die Schwachen – in diesem Fall die Frauen – schützen. Jenseits von Eden ist das Recht entscheidend für das Zusammenleben. Die Ehe als Rechtsform muss sich daran messen lassen, ob sie das Bündnis zweier Menschen sichert und deren Eigenständigkeit schützt.
Deshalb wird im Neuen Testament die Ehe nicht als Teil der Erlösungsordnung gesehen, die mit Christus angebrochen ist. Sicher kann die Ehe (vgl. Epheser 5, 32) ein Bild für das Verhältnis von Christus zu seiner Kirche (wie: Bräutigam und Braut) sein,
so wie im Alten Testament die Ehe ein Bild für den Bund Gottes mit seinem Volk Israel ist (vgl. Jesaja 54, 5ff. oder Hosea 2, 21f.) - mehr aber auch nicht. Weil in Christus alles neu wird, darum werden auch die Geschlechterverhältnisse neu. „Da ist weder Jude noch Grieche, weder Herr noch Sklave, weder Mann noch Frau“ schreibt der Apostel Paulus (Galater 3, 28). In Gottes neuer Welt wird eine neue Geschlechterordnung sichtbar, die alle umgreift, auch den geschlechtlich nicht festgelegten Adam, den Erdling. Gerade die Adam-Christus-Typologie, die Schöpfung und Erlösung aufeinander bezieht, wäre wohl missverstanden, wenn die Erlösung nur Adam, dem Mann, gelten würde, nicht aber Eva, der Frau.
Diese biblische Sichtweise hat dazu geführt, dass die Christen die Ehelosigkeit durchaus hoch schätzten und keineswegs eine eigene religiöse Rechtsform begründeten. Wenn die Ehe nicht dem Heil dient, sondern dem Wohl, dann muss die jeweils bessere Rechtsform übernommen werden.
Und nichts anderes haben die christlichen Gemeinden des Anfangs gemacht.
Es wäre also theologisch problematisch, die Festlegung auf genau zwei Geschlechter und deren Hierarchie als Teil der Schöpfungsordnung anzusehen, die zugleich ethisch verbindliche Maßstäbe setzt. Unter Bezug auf die biblischen Texte (von Anfang bis Ende) lässt sich geschlechtliche Vielfalt und die Erlösungsbedürftigkeit aller Menschen besser begründen. Die Neuschöpfung, die in Christus begonnen hat, kennt weder Geschlecht noch Ehe.
Aber solange wir als Menschen leben, soll unser Umgang mit der Geschlechtlichkeit dem Wohl aller dienen. Die Ehe dient diesem Zweck. Das begründet ihre Würde als Institution. Eben deshalb ist sie nicht von der Geschlechterkonstellation und auch nicht von der Fortpflanzungsfähigkeit abhängig.
Schluss...
Ich weiß, ich habe Ihnen viel zugemutet. Aber ich wollte Ihnen zeigen, dass die evangelische Sicht der Bibel treu und auf der Höhe der Zeit ist. Die Ehe genießt bei uns die allerhöchste Wertschätzung und dient als Rechtsform dem Wohl aller Geschlechter. Dem Wohl der Kinder können jedoch auch andere Lebensformen dienen. Wir dürfen um Gottes Willen die Liebe, die Kinder von Alleinerziehenden, in Patchworkfamilien und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften erfahren, nicht abwerten.
Die Erweiterung dessen, was wir unter Familie verstehen, würdigt die Leistung, die zum Wohl von jungen und alten Menschen hier erbracht wird. So können wir die Herausforderungen vor denen heute Familien stehen, besser wahrnehmen und begleiten und Familien als verlässliche Gemeinschaft stärken.
Es gibt viel zu tun!